01:30 Uhr. Casinotoilette. Ich schaue in den Spiegel und sehe eine etwas müde, aber entschlossene Version von mir. Ich gebe ihr einen kurzen Pep-Talk: „Jetzt kommt es drauf an. Volle Konzentration.“ und begebe mich zurück an den Pokertisch für die letzte Stunde, bevor das Casino schließt. Wir saßen bereits seit 6,5 Stunden dort. Ich sehe, was ich üblicherweise um diese Uhrzeit dort sehe: Mürbe gewordene, unkonzentrierte, willensschwache Gegner.

Poker ist wie Boxen. Wenn ein Gegner die Deckung im falschen Moment runter nimmt oder zu viele unkontrollierte Schläge aneinander reiht, kann ein guter Boxer diese Fehler ausnutzen, um gezielte Wirkungstreffer zu setzen. Zu Beginn eines Kampfes verhält der Amateur sich zurückhaltend und macht wenig gravierende Fehler. Mit jeder weiteren Runde im Ring steckt er jedoch Schläge ein, gibt Informationen über seinen Stil preis und wird physisch schwächer. Die Schultern fangen an zu brennen, die Schläge werden schwächer, die Deckung wird fahrig. Die Zeit des Profis beginnt.

Ebenso muss ein Pokerpro Fehler von Amateuren identifizieren und ausnutzen, um Geld zu verdienen. Am Pokertisch nutzt der Pro ebenfalls Informationen über den Stil des Gegners, im Vergleich zum Boxen ist allerdings die Energie, die Stunde für Stunde mehr und mehr schwindet, psychisch und nicht physisch – Willenskraft.

Wie ein Boxer, der sich zurückgehalten hat, kehre ich nach der 10. Runde nun etwas erschöpft aber mit (Willens-) Kraftreserven an den Tisch zurück, um Wirkungstreffer gegen mürbe Deckungen und vorhersehbare Konterangriffe zu setzen…

Wie ein Muskel

Seinen Hintern ins Fitnessstudio schwingen, die Finger von den Cookies lassen, Geld nicht unkontrolliert ausgeben, die Hausarbeit weiterschreiben, eine starke Hand beim Pokern folden, weil man weiß, dass man geschlagen ist. All das erfordert Willensstärke. Obwohl wir wissen, dass es für uns langfristig besser ist, zum Training zu gehen, statt noch eine Stunde auf dem Sofa zu liegen oder endlich mit der Schreibarbeit weiterzumachen, statt noch eine Runde Tower Defence zu spielen, überschneiden sich Wollen und tatsächliches Tun doch meistens weniger als wir es gerne hätten.

In diese Kerbe schlägt das einleitende Zitat von Derek Sivers. Wenn wir nur die richtigen Informationen bräuchten, um reich und durchtrainiert zu sein, wären wir es alle bereits, weil…Internet – alles da. Die meisten Diäten, Trainingsprogramme und Geschäftsprinzipien sind simpel und funktionieren. Es ist kein Geheimnis, wie der menschliche Körper funktioniert, Fett abbaut und Muskeln aufbaut. Es gibt keine geheime Wirtschaftsbibel, aus der Vorstandsvorsitzende in geheimen Sitzungen unter Ihresgleichen predigen. Keine Vorkenntnisse, ein Buch, ein Wochenende und du weißt, wie Wirtschaft funktioniert. Die Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten sind zwar simpel, aber es ist nicht einfach, sie konsequent und langfristig umzusetzen. Willensstärke hat hier eine Schlüsselrolle.

Die psychologische Forschung legt nahe, dass Willenskraft eine Art verbrauchbare psychologische Ressource ist, die von uns für volitionale Handlungen genutzt werden kann. Einfacher ausgedrückt: Willenskraft ist wie ein Muskel. Wenn ein Muskel erschöpft ist, kann das Hirn ihm zwar Befehle geben („Drücke die Langhantel nach oben…du LAPPEN“), aber der Muskel kann den Befehl aufgrund der physiologischen Erschöpfung nicht ausführen.

Ein typisches Beispiel – selbst oft erlebt – dafür wäre: Du kommst nach einem langen Unitag nach Hause und willst eeeeeigentlich ins Fitnessstudio, entschließt dich dann aber doch, den Leg-Day zu skippen. Es scheint im ersten Moment etwas absurd, da man körperlich wenig erschöpft ist. Hat man doch in der Uni eigentlich nur rumgesessen. In der Vorlesung aufpassen und sich Notizen machen, sich an Diskussionen beteiligen und eigene Argumente ausformulieren, die Konzentration halten, statt sich in Tagträumen zu verlieren. Das alles verbraucht psychische Energie, Willenskraft. Ebenso ist das Absolvieren eines körperlich anstrengenden Trainings eine Tätigkeit, die Willenskraft erfordert. Ist diese jedoch schon durch die vorigen Aktivitäten des Tages aufgebraucht, so wird es psychologisch schwerer, sich zum ebenfalls willenskraftverbrauchenden Training aufzuraffen. Der Willenskraftmuskel ist erschöpft, schlaff, brennt und kann den inneren Schweinehund nicht mehr beiseite schieben. Du bleibst auf dem Sofa kleben.

In der Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang zumeist der Prozess bzw. Zustand eines erschöpften Willens-Muskels unter dem Namen „Ego Depletion“ („Selbsterschöpfung“) erforscht. Es wird untersucht, wie Willenskraft verbraucht wird und wie Menschen sich verhalten, wenn sie aufgebraucht ist. So erleben Menschen mit erschöpfter Willenskraft beispielsweise die Aufgaben, die vor ihnen liegen als schwerer, fühlen sich erschöpft und sind schlecht gelaunt. Ebenfalls sinkt die aufgebrachte Anstrengung (genau wie bei geringer Selbstwirksamkeit).

Eiskalte Forschung

Ein typisches Ego-Depletion-Experiment sieht folgendermaßen aus: Man nehme zwei Versuchspersonen, nennen wir sie Matthias und Paul. Wir lassen Matthias seinen Arm in Eiswasser halten und messen, wie lange er das aushält. Das ist eine Standardprozedur zur Messung von Willensstärke. Nach einer Weile kodiert das Hirn die Kälte als Schmerz und dem Urinstinkt, Schmerz zu vermeiden, muss bewusst unter Aufbringung von Willensstärke widerstanden werden.

Paul hingegen lassen wir vorher eine Aufgabe erledigen, die Willenskraft erfordert. Das kann beispielsweise Kopfrechnen oder das Treffen von Entscheidungen sein, die nicht sofort auf der Hand liegen. Beide Prozesse erfordern Konzentration und erschöpfen somit den Willensstärkemuskel. Dann lassen wir unseren armen Paul seinen Arm in Eiswasser halten und stoppen die Zeit.

Es wird sich zeigen, dass Paul seinen Arm 40 Sekunden lange im Eiswasser halten wird und Matthias 80 Sekunden, da er zuvor kein Mathe machen oder Entscheidungen treffen musste. Es ist so, als hätten wir Paul und Matthias zum 100-Meter-Sprint gegeneinander antreten lassen und Paul hätte zuvor noch 100 Kniebeugen absolvieren müssen.

Es hat sich bei dieser Art der psychologischen Forschung ein, wie ich es nennen würde, Typisch-Mann-Effekt gezeigt. Den Schmunzler möchte ich euch nicht vorenthalten. Wenn eine attraktive, junge Frau das Experiment durchführt und männliche Versuchspersonen während des Eiswasser-Tests beobachtet, werden offensichtlich ungeahnte Willenskraftreserven freigesetzt und mache Männer halten ihren Arm so lange im Wasser, bis dieser blau anläuft und der Test abgebrochen werden muss.

Jahrmillionen an Evolution und wir Männer bleiben doch sehr simpel gestrickt. Whatever. Hier ein Bild von Anna Kurnikowa.

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Eh…Dings…wo waren…genau…Willensstärke.

Willensstärke erhöhen

Good news. Es gibt drei wissenschaftlich nachgewiesene Möglichkeiten, die Willenskraft zu pushen. Die nachgewiesenen Effekte sind stark und durch mehrere Studien belegt.

1. Belohnungen

Einfach, aber effektiv. Wenn wir für jede Sekunde im Eiswasser einen Euro geben oder man ab zwei Minuten ein Date mit der heißen Versuchsleiterin bekommt, erhöht das also die Willenskraft. Dieser Effekt hängt natürlich von der subjektiven Qualität der Belohnungen ab und schwankt dementsprechend in seiner Stärke auf die Willenskraft. Hier ein Beispiel für die Umsetzung im Alltag meinerseits.

Ich hatte schon lange davon geträumt, mein eigenes Buch zu schreiben. Der klassische Weg, ein Buch zu schreiben ist jedoch wenig belohnend: Man schreibt und schreibt, Kapitel für Kapitel, Monat für Monat, Jahr für Jahr, ohne Feedback zu bekommen. Deswegen habe ich den Arbeitsprozess nun so gestaltet, dass die Inhalte Post für Post in die Welt gesetzt werden, Feedback reinkommt und ein fruchtbarer Austausch mit anderen Interessierten entsteht. Nicht nur das allein ist schon belohnend, auch jeder fertige Post gibt einem das Gefühl, etwas vollendet zu haben, was sehr motivierend ist. Der steinige, lange Weg zum Buch ist nun gespickt mit Rosinen.

2. Glukose

Wie sich in mehreren Studien gezeigt hat, verbraucht der Willensstärkemuskel Zucker – der Blutzuckerspiegel sinkt deutlich. Das Anheben des Blutzuckerspiegels durch die Zufuhr von Zucker regeneriert kurzfristig und schnell auch die Willensstärke wieder. Du kennst möglicherweise auch diese Lust auf Süßigkeiten nach einer Phase geistig anstrengender Arbeit (z. B. nach Vorlesungen). Nichts fettiges, kein Fleisch, auf Zucker hat man Lust. Der Körper strebt danach, die verbrauchten Ressourcen wieder aufzunehmen. Der Glukose-Effekt auf die Willenskraft ist solide und schwankt zwischen den unterschiedlichen Studien nicht allzu stark, da man beim Zucker-Essen wohl nicht allzu viel falsch machen kann. Diesen Mechanismus mache ich mir ca. 2x wöchentlich zunutze.

In jeder zweiten längeren Pokersession kommt dieser Moment in dem man merkt: „Oh oh, du spielst nicht mehr dein bestes Tennis, bro.“. Ich bin unkonzentriert, verfolge die Action am Tisch nicht durchgehend, mache (zunächst kleinere) Flüchtigkeitsfehler, lasse mich viel durch mein Handy ablenken. Das ist für mich ein Zeichen, dass ich langsam ego depleted (Willensstärkemuskel erschöpft) werde. Ich bestelle mir dann einen Espresso (wichtig: MIT Zucker), einen Energydrink (da ist schon genug Zucker drin) oder einfach einen Schokoriegel. Das funktioniert wirklich und steigert die Ausdauer deutlich. Nur sollte man es nicht übertreiben und sich klar machen, dass man nicht ewig Zucker auf diese Ermüdungserscheinungen schütten kann und den Willensstärkemuskel bald durch eine Pause von der Tätigkeit auf natürliche Weise regenerieren lassen sollte.

3. Training

Das Beste nun zum Schluss: Willensstärke lässt sich trainieren wie ein Muskel. Als ich die Zahlen zu diesem Forschungsergebnis durchgegangen bin, war ich euphorisiert.

„…N = 300-nochwas…mhm…seven studies provided nine tests of…DA!

The effect size was large and significant, indicating that participants receiving 

training performed better (...)

Oh Babydoll. Das ist gut.“

Der Trainingseffekt auf die Willenskraft ist groß und statistisch abgesichert. Personen, die Ihre Willenskraft trainieren, können diese länger halten.

Warum mich das so freut? Weil es wieder einmal ein wissenschaftlicher Beweis dafür ist, wie viel Kontrolle wir über uns selbst haben. Kein „Aber meine Genetik, mein Umfeld, meine Voraussetzungen, ich bin einfach so…“. Nein. Jeder ist Herr über sein Leben und kann an sich arbeiten, wenn er möchte. Ausnahmen bilden an dieser Stelle natürlich psychische Erkrankungen wie Depression, die hier jetzt aber nicht Thema sein sollen.

Beim Training der Willensstärke gilt: Nutze sie und sie wird stärker. Das Schöne an dem Trainingseffekt ist, dass unterschiedlichste Tätigkeiten, die Willensstärke erfordern, diese auch trainieren. Beispiele für nachweislich effektive Trainingsaufgaben im Alltag sind: Aufrechte Haltung bewahren, Emotionskontrolle, Ernährung überwachen, Schimpfwörter unterdrücken (fuck it, ich mach einfach nur die ersten drei…).

Diese Übertragbarkeit des Willensstärke-Trainings ist der Hammer und führt zu mehreren wechselseitigen Effekten. Gehe ins Fitnessstudio und du kannst länger Lernen. Lerne länger und du kannst härter trainieren. Sei am Pokertisch disziplinierter und du kannst länger…whatever. Du verstehst, worauf ich hinaus möchte: Die unterschiedlichen Willenskraft-Tätigkeiten pushen sich gegenseitig hoch. Sei kreativ, erfinde deine eigenen, experimentiere. Teile sie dann gerne mit mir. Ich bin da sehr interessiert.

Challenge

Jetzt ist es an dir, das neu erworbene Wissen anzuwenden. Experimentiere ein wenig. Play and have fun. Mein Vorschlag:

Nutze den Zuckertrick das nächste Mal, wenn du an einer willensstärkezehrenden Aufgabe sitzt (z. B. Schreibarbeit, Lernen, Training). Statt abzubrechen, gönn dir einen Schokoriegel oder eine reife Banane und ziehe – ohne Pause – weitere 30 Minuten durch. Du wirst 30 weitere Qualitätsminuten haben. Nicht vergessen: Auch hier macht die Dosis das Gift. Nicht übertreiben!

Go out and move something.

LG

M

PS: Hier übrigens der Nachweis für meine kühnen Worte.